OB Haase erinnert sich an den Beginn seiner Amtszeit: Gemeinsam einer neuen Zeit gestellt

Und Schönebeck (Elbe) war aktiver Teil der friedlichen Revolution. Jene Stadt, in der ich eine Familie gegründet und meine berufliche Bindung gefunden hatte, war keine ?schweigende?, wo man vielleicht erst dann auf den Zug in die neue Zeit sprang, als dieser nicht mehr zu stoppen war. Nein, in Schönebeck wurden die Montagsdemonstrationen mit Leben erfüllt. Drei Männer standen damals an der Spitze: die Pfarrer Hans Gottschalk, Ulrich Lieb und Günter Schlegel.

Im denkwürdigen Frühjahr 1990 erkannte ich wie viele andere auch die ungeahnten Gestaltungsmöglichkeiten in einer Demokratie. Motiviert durch Kollegen, Freunde und Unionsfreunde der CDU fasste ich damals den Entschluss, in die Politik zu gehen. Und dann sollte schon bald ein entscheidender Tag meines Lebens kommen ? denn es ging alles rasend schnell in dieser unsteten Zeit. Man schrieb den 6. Mai 1990, das Datum der ersten freien Kommunalwahlen in Ostdeutschland. Ich erklärte mich bereit, an führender kommunalpolitischer Position die Geschicke der Stadt mitzubestimmen, wenn denn die demokratischen Voraussetzungen dafür erfüllt seien. 

Die Wahlergebnisse hatten meine durch die neuen Stadtverordneten beschlossene Wahl zum Bürgermeister ? ?der ersten Stunde? -  zur Folge und bedeuteten gleichzeitig eine gewaltige und nicht allein zu bewältigende Aufgabe. Beruflich war es die größte Herausforderung meines Lebens. Ich erinnere mich, mit welch großer Spannung wir damals an den Aufbau einer kommunalen Selbstverwaltung gegangen waren. Diese Zeit des Wechsels und der Veränderung mit all ihren Unwägbarkeiten, Unsicherheiten, Improvisationen und Erwartungshorizonten gebar eine frische Entschlossenheit zum Handeln innerhalb und außerhalb des Rathauses.

Mit einer ersten Koalitionsvereinbarung noch im Mai 1990 legte der Stadtrat die Grundlagen für die künftige Kommunalpolitik. Wenn die Sprache auch noch ein wenig die alten Gewohnheiten fortsetzte ? etwa wenn von einer ?Auswahl der Kader? die Rede war -  so handelte es sich doch um ein erstes mutiges Papier. Darin war die anzugehende Umstrukturierung der Verwaltung ebenso enthalten wie etwa die Umwandlung ?volkseigener? kommunaler Betriebe in Gesellschaften mit beschränkter Haftung oder Ziele einer neuen Stadtentwicklung wie die ?Rettung der Altbausubstanz in Bad Salzelmen, Frohse und Schönebeck?, die notwendige ?Einpassung der nördlichen Altstadt? in das Gesamtbild dieses Stadtgebietes oder eine ?behindertengerechte Verkehrsplanung?.

Der Aufbau der kommunalen Selbstverwaltung wäre übrigens undenkbar gewesen ohne die tatkräftige Unterstützung durch unsere Freunde aus dem niedersächsischen Garbsen bei Hannover. Diese Hilfe war selbstlos und für uns immens wertvoll.

Der kommunalpolitische Alltag gestaltete sich alles andere als einfach. Vom notwendigen Neuaufbau und der gleichzeitig massiven Verschlankung der Verwaltungsstruktur einmal abgesehen, hatten wir es zunächst mit unklaren Eigentumsverhältnissen zu tun, dazu mit einer Flut von Problemen möglicher Gewerbetreibender und Händler, mit der Umwandlung des VEB Gebäudewirtschaft in eine marktwirtschaftliche Rechtsform ? die heute so erfolgreiche Schönebecker Wohnungsbaugesellschaft mbH ? oder mit der Neuordnung der Fernwärmeversorgung; mit der Aufstellung von Bebauungsplänen, mit der Ausweisung von Gewerbegebieten oder mit der Gründung einer Stadtentwicklungsgesellschaft als erster solcher Gesellschaft in den neuen Bundesländern.

Erst später dann sollten wir uns auch bei den Ver- und Entsorgungsmedien neu und gut ?aufstellen? - bis zum Beispiel jenem Punkt, als wir den ?Strom aus eigener Hand? (der Stadtwerke) postulieren konnten. Auch unser kommunal-privatwirtschaftliches Modell der Abwasserentsorgung sollte wiederum später noch einen großen Erfolg darstellen.

Wir konnten Anfang der 90-er Jahre weite Teile der Altstadt und des Elbufers vom ruinösen ?Charme? des DDR-Sozialismus befreien und diesem Stadtgebiet zunächst ein neues, frisches Gesicht geben. Natürlich konnte dies nur einen ? streitbaren ? Anfang darstellen. Heute setzen wir die damals begonnene Entwicklung mit der Umsetzung des städtebaulichen Rahmenplans zur Sanierung der Altstadt fort. Weitere Themen waren später übrigens auch die Dorferneuerungsprogramme in den dörflich geprägten Stadtteilen, die nach und nach angeschoben werden mussten, und der Ausbau der Infrastruktur vor allem mit den anspruchsvollen Brückenbauten.

Wenn das kommunale Verwaltungsgeschehen nach der Wende von tagespolitischer Taktik und breit gefächerter Fleißarbeit geprägt war, dann kam es mehr noch darauf an, eine strategische Linie für die künftige Entwicklung unserer damaligen Kreisstadt zu entwerfen. Dies war die eigentliche Herausforderung jener Zeit. Nur Schritt für Schritt war sie allerdings anzugehen.

Im Mittelpunkt stand zunächst die Entwicklung von Bad Salzelmen, die wir uns seinerzeit auf die Fahnen geschrieben hatten und in deren Umsetzung bis in die heutige Zeit hinein dreistellige Millionenbeträge geflossen sind. Und: ?Das Solbad Dr. Tolberg gehört wieder der Kommune? lautete eine Schlagzeile der Volksstimme 1991. Die kostenfreie Übernahme von der Oberfinanzdirektion stellte den entscheidenden Schritt dar, den Weg hin zu der alten und wieder neuen Hauptidentität als Kurstandort gehen zu können. Parallel entschloss sich das Haus Waldburg-Zeil unter unserem Einfluss dazu, auf dem damaligen Gelände des Erlenbades eine moderne Rehabilitationsklinik in Bad Salzelmen aufzubauen. Erfolgsgeschichten in ?Salze?.

Es ist für niemanden ein Geheimnis, dass die wirtschaftliche Entwicklung von entscheidender Bedeutung für das Wachsen und Gedeihen einer Kommune ist. Eine Stadt machen nicht nur die Gebäude und Straßen und Parks, sondern vielmehr ihre Menschen aus. Und die brauchen Arbeit. Die Bürger haben hier im Zuge der späteren Einheit nicht nur positive Erfahrungen gemacht. Mit dem Zusammenbruch bzw. der drastischen Schrumpfung von Großbetrieben wie dem Traktorenwerk, dem Heizkesselwerk, dem Dieselmotorenwerk, dem Sprengstoffwerk und dem Gummiwerk gingen viele Tausende Arbeitsplätze verloren. Diese bittere Erfahrung wurde vor dem Hintergrund der so zuversichtlichen Ereignisse der Wende zunächst enttäuscht wahrgenommen. Ich denke, in weiten Teilen zurecht.

Es wurde hier an der Elbe dann zwar wieder und wieder gegen das Vorgehen der so genannten ?Treuhand? demonstriert, aber die Gemüter waren von mehr Tapferkeit als von Verzweiflung geprägt, weil man nach vorn schauen wollte, obwohl man weithin auf sich allein gestellt war. Ich erinnere mich noch gut daran, wie hilflos und verzweifelt wir uns gemeinsam mit Schönebecker Metallern vor den Türen der Treuhand am Berliner ?Alex? gefühlt haben. Es mutet gelegentlich ein wenig seltsam an, mit welcher öffentlichen Aufmerksamkeit dagegen schon die Bedrohung von vergleichsweise wenigen Arbeitsplätzen im Westen der Republik begleitet wird. Das unterscheidet bis in die heutige Zeit den ?Rhein? von der ?Elbe?.

Nichtsdestoweniger haben wir damals die notwendigen Weichen dafür gestellt, neues Gewerbe anzusiedeln und verbliebenes Potenzial möglichst zu erhalten. Wir haben eine weithin unübliche Methode angewendet, die mehr und mehr Anerkennung auch durch die Landespolitik erfuhr und Modellcharakter entwickelte: Es war dies die systematische Revitalisierung unserer Altindustrieflächen. Gleichzeitig entwickelten wir unter Nutzung von Fördermitteln erfolgreich mehrere Industrie- und Gewerbegebiete. Natürlich gibt es auch auf diesem buchstäblichen ?Felde? noch viel zu tun.

Aber es gab auch ungewöhnliche bis skurrile Verfahrenweisen. So erinnere ich mich daran, dass wir uns einmal mit einem offenen Brief an die ?Nordamerikanische Wochen-Post? wandten, um für ?Zukunftskapital für Schönebeck? zu werben? Naja, lassen wir das einmal dahingestellt. Eine interessante Erfahrung dagegen war, den großen Fußballer ?uns Uwe? Seeler kennen zu lernen, der in Schönebeck als möglicher Investor auftrat, leider ohne Erfolg.

Nun heißt es immer so schön, dass nicht alles Wirtschaft sei, aber ohne Wirtschaft alles nichts. Dies ist wohl nur die halbe Wahrheit, wie ich meine. Kann man ohne Kultur leben? Macht die Kultur und die soziale Eingebundenheit den Menschen nicht erst aus? Ist weiterhin ein markanter und attraktiver Städte- und Wohnungsbau nicht identitätsstiftend und imagebringend? Und auch die Verwaltungsdienstleistungen, die Freizeit- und Tourismusangebote, das Sport- und Vereinswesen wollen, dürfen und können nicht vermisst werden. Warum diese Aufzählung kommunaler Herausforderungen? Weil sie deutlich machen soll, vor welch gewaltigen Aufgaben wir in der ersten Hälfte der 90-er Jahre standen und teilweise immer noch stehen. Nichts will vergessen werden ? kein Bürger und kein Thema. Und dennoch passiert so etwas gelegentlich. Und dass manches besser hätte gemacht werden können, sei ebenso eingestanden.

Die Zeit indessen zog sich hin und fort ? bis in die heutigen Herausforderungen wie die IBA, die Altstadtsanierung, die Anbindungsstraße, die neue Elbebrücke, die Erweiterung des Solequells, das Verkehrskonzept, die Internetversorgung und vieles andere mehr. Zuvorderst steht die Aufgabe, sich dem demografischen Wandel zu stellen und Schönebeck für Alte und Junge attraktiver zu machen. Aber das sind andere Themen als das in diesem Beitrag gefragte.

Inzwischen bin ich allerdings einer der am längsten gedienten Stadtoberhäupter Sachsen-Anhalts geworden und darüber hinaus. Dies gibt mir abschließend Gelegenheit, mich an dieser Stelle bei allen Menschen herzlich zu bedanken, die gut mit mir zusammengearbeitet haben. Nicht zuletzt gilt dies für die Stadtverwaltung und den Stadtrat selbst. Ich habe viel gesehen und erlebt in den letzten zwei Jahrzehnten. Die lachenden Kinderaugen in der integrativen Einrichtung in der Pestalozzistraße bei einer Baumpflanzung oder das gemeinsam bewältigte Hochwasser 2002 mit den Bürgern und unseren Kameraden der Freiwilligen Feuerwehren stehen für so unzählige gute Erfahrungen in dieser schönen Stadt, für die ich sehr dankbar bin.